#15 Strategisch entscheiden oder Zufallsprinzip?

Strategische Entscheidungen

Strategiegespräch mit Christian Underwood und Prof. Dr. Jürgen Weigand

In der neuen Folge Hoffnung ist keine Strategie im Strategiegespräch #15 "Strategisch entscheiden oder Zufallsprinzip?" sprechen Strategieberater Christian Underwood und Professor Dr. Jürgen Weigand, Deputy Dean der WHU (Otto Beisheim School of Management) über strategische Entscheidungsfindung in Theorie und Unternehmenspraxis.

Jeden Tag trifft der Mensch 20.000 bis 30.000 Entscheidungen. Einige haben nur eine kurzfristige Wirkung, wie beispielsweise der Kaffee am Morgen, andere hingegen währen länger, wie das Zusammenziehen mit dem Lebenspartner. Aber wie genau trifft man eigentlich eine Entscheidung? Und wann handelt es sich um eine taktische, operative Entscheidung und wann handelt man strategisch?

In der Theorie ist die Entscheidungsfindung nach dem Rationalitätsprinzip gar nicht so schwer. Aber wie sieht das in der beruflichen Praxis aus? Hier kommt es zu kognitiven Verzerrungen, Störgeräuschen, persönlichen Wertesets und das blinde Verlassen auf die eigens gemachten Erfahrungen.

In dieser Folge stellen sich Jürgen und Christian all den großen Fragen rund um das Thema strategisch Entscheiden. Kann der Mensch überhaupt rein rational entscheiden oder braucht es hierfür eine Maschine? Welche Einflussfaktoren spielen im Entscheidungsprozess eine Rolle und hat der Mensch jemals alle Informationen vorliegen, die er für die Entscheidungsfindung braucht? All das und noch mehr erfahrt ihr in der neuen Folge Hoffnung ist keine Strategie #15 "Strategisch entscheiden oder Zufallsprinzip?"

Detaillierte Folgenbeschreibung:

Wie viele Entscheidungen täglich getroffen werden

Der Mensch trifft täglich zwischen 20.000 bis 30.000 Entscheidungen. 90 bis 95% dieser Entscheidungen laufen automatisiert ab. Hierzu zählen beispielsweise die Entscheidung, ob man tatsächlich aufsteht oder was man frühstücken wird. Im Unterbewusstsein entstehen Routinen, die lange eingeübt werden, aber im Kern sind es trotzdem Entscheidungen, die getroffen werden. Neben diesen automatisierten Entscheidungen gibt es auch die strategischen Entscheidungen, welche getroffen werden müssen.

Definition der strategischen Entscheidung

Strategie und auch strategische Entscheidungen kommen überwiegend aus dem militärischen Bereich. Der Begriff unterscheidet sich vom Begriff der taktischen oder operativen Entscheidung. Operative Entscheidungen sind kurzfristig umkehrbar. Ob man beispielsweise einen Kaffee trinkt oder nicht, kann man noch entscheiden, wenn die Kaffeemaschine bereits läuft oder die heiße Tasse vor einem steht. Strategische Entscheidungen hingegen sind kurzfristig nicht umkehrbar.

Strategische Entscheidungen haben Konsequenzen, die über eine bestimmte Zeit hinweg wirken und wenn die Konsequenzen nicht recht sind, kann man diese nicht ohne weiteres obsolet machen.

Beispiel: Ein Mann und eine Frau entscheiden sich zusammenzuziehen. Sie unterschreiben hierzu einen Mietvertrag, stellen aber nach ein paar Wochen fest, dass die Beziehung keine Zukunft hat. Ohne weiteres kommen sie aus dem Mietvertrag aber nun nicht mehr raus. Es gibt Kündigungsfristen die beispielsweise beachtet werden müssen – ob sie wollen oder nicht. Das heißt: Sie müssen bereits im Vorhinein überlegen, wie stabil die Beziehung ist und ob sie dem Stand hält. Macht es Sinn zu diesem Zeitpunkt zusammenzuziehen und einen Mietvertrag zu unterschreiben? Auch wenn die Konsequenzen in diesem Beispiel nur drei Monate anhalten, sind es trotzdem längerfristige Konsequenzen, die nicht unmittelbar umkehrbar sind.

Theoretische Entscheidungen nach Rationalitätsprinzip

Entscheider*innen in Unternehmen werden nie alle relevanten Informationen haben, die sie zur Entscheidungsfindung benötigen, dementsprechend kann man sich im Vorhinein nie aller Konsequenzen bewusst sein.

Ökonomen arbeiten mit dem Rationalitätsprinzip. Das bedeutet, dass Entscheider zu jedem Zeitpunkt alle relevanten Informationen haben und in der Lage sind, verschiedene Optionen zu identifizieren, miteinander zu vergleichen und die beste Option auszuwählen. In der Theorie erweist sich dies als sehr nützliches Prinzip, was erlaubt, gewisse Schlussfolgerungen zu ziehen, die dann mit der Realität verglichen und gemessen werden können.

In der Realität hingegen wird selten rational entschieden und es sind auch niemals alle entscheidungsrelevanten Informationen vorhanden.

Viele Auswahlmöglichkeiten erschweren Entscheidungsfindung

Im Normalfall gibt es eine Daumenregel: Man hat zwei bis drei Optionen zur Auswahl und entscheidet sich hier für eine. Je mehr Optionen zur Auswahl stehen, desto schwieriger wird es für den Menschen, eine Entscheidung zu treffen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Menschen, insbesondere beim Kauf von Konsumgütern, dazu neigen, mit mehr als drei Optionen überfordert zu sein. Es wird dann zu komplex und die Überforderung führt in vielen Fällen dann zum Abbruch der Kaufentscheidung.

Erfahrungswissen prägt die Entscheidungen von Morgen

Erfahrungen aus der Vergangenheit prägen und beeinflussen auch die Erfahrungen und Entscheidungen heute, welche Auswirkungen auf die Zukunft haben werden. Manager werden oftmals angestellt, weil sie in einer früheren Firma gute Arbeit geleistet haben und es in dem neuen Unternehmen noch einmal auf diese Weise machen sollen. Diesen Auftrag setzen sie dann auch meist um.

Auch hier muss angemerkt werden, dass der Mensch im Laufe der Evolution gewisse Routinen gebildet hat, um zu überleben. Eine Routine ist bei positiven Erfahrungen der Vergangenheit, das zu extrapolieren und in Zukunft fortzuschreiben. Der Mensch denkt grundsätzlich sehr linear, auch wenn die Zusammenhänge in der Realität nicht linear sind. Auf Erfahrungswissen basierend, bei den wenigen Beobachtungen, die der Mensch selbst gemacht hat, denkt dieser, wenn er nur einen Punkt hinzufügt, dann funktioniert das, was aber häufig nicht der Fall ist.

Fortschreibung in disruptiven Zeiten besonders schwierig

Insbesondere in disruptiven Zeiten, wie es aktuell der Fall ist, ist es schwierig das bereits Erfahrene einfach fortzuschreiben. Es gibt exponentielle Prozesse, welche eben nicht linear sind.

Ein Beispiel zeigt die Corona-Pandemie: Der Mensch hat gelernt, dass sich bei mehr Infektionen das Geschehen schneller entwickelt. Hier findet ein exponentielles Wachstum statt. Hier kommt die Heuristik zur Vereinfachung der Entscheidungsfindung, nämlich lineares Denken, an ihre Grenzen und führt zu Fehlern.

Wenn der Mensch also nicht erkennt, dass etwas exponentiell ist, trifft er eher eine falsche Entscheidung. Man nennt dies kognitive Verzerrung.

Zu denken, dass die Zukunft ähnlich sein wird, wie das Heute oder die Vergangenheit ist eine große Gefahr für die strategische Entscheidungsfindung

Auf den Erfahrungen der Vergangenheit die Zukunft aufbauen, ist ein typisches Problem, auf welcher Grundlage das Gehirn Informationen selektiert. Menschen sind von Natur aus kleine Egoisten und hören sich selber gerne reden und mögen auch ihre eigenen Entscheidungen gerne – insbesondere natürlich, wenn diese auch noch erfolgreich waren. Das Gehirn selektiert dann genau diese Informationen, statt zu überlegen, dass die Zukunft unter Umständen ganz anders aussieht als die Vergangenheit. Hier sollte sich eigentlich gefragt werden, welche Abweichungen es gibt und welche Informationen sich unterscheiden. Eben diese Informationen werden aber häufig ignoriert und als „Zufallsergebnis“ abgetan, während man sich weiter am linearen Trend entlanghangelt.


Persönliche Werte beeinflussen Entscheidungsfindung

Auch Verzerrungen, sogenannte Biases, und Wertesets können die Entscheidungsfindung beeinflussen.

Beispiel: Hinter bewussten Entscheidungen, wie beispielsweise nur noch vegan zu leben und keine in Plastik verpackte Lebensmittel mehr zu kaufen, steht ein bewusster Wert. Dieser kann sein, dass jemand die Umwelt schonen möchte oder einen Wertbeitrag leisten will, dass die Erde auch in Zukunft noch für Menschen nützlich ist. Auch diese persönlichen Werte beeinflussen die Entscheidungsfindung. Wenn verschiedene Optionen zur Auswahl stehen und eine Option entspricht dem Wertesystem eines Individuums, dann wird dieses diese Entscheidung immer bevorzugen, wenngleich eine andere Option eventuell wirtschaftlicher oder besser wäre.

Entscheidungen in Richtung Nachhaltigkeit bei Unternehmen

Das Thema Nachhaltigkeit bewegt die Unternehmenswelt aktuell massiv. Hier werden dementsprechend auch andere Entscheidungen, beispielsweise über das Produktsortiment getroffen.

Beispiel Lebensmittelhersteller:

Ein Wursthersteller trifft die Entscheidung, nun auch vegetarische Produktranges unter der gleichen Marke anzubieten. Dies hat natürlich eine hohe Sprengkraft, welche auch im eigenen Unternehmen spürbar wird. Wenn Fleisch die Unternehmens-DNA ist und nun eine vegetarische Produktpalette hinzugefügt wird, dann ist das ein Thema, welches auch nach außen wirkt. Die Entscheidungen werden dann nicht mehr nur auf sachlicher oder rationaler Ebene getroffen.

Viele menschliche Entscheidungen werden von Emotionen getragen

Rationalität wird oft mit Sachlichkeit gleichgesetzt. Aber Menschen sind auch emotional und viele der Entscheidungen werden von menschlichen Emotionen geleitet, auch wenn der/die Entscheider*in dies in diesem Moment nicht wahrnimmt.

Unternehmen müssen sich nach dem richten, was die Kunden wollen. Wenn sich die Kundenpräferenzen in der Form verändern, dass es wirtschaftlich sein kann, diesen Präferenzen zu folgen – wieso sollte man dem dann nicht nachgehen?

Um wieder auf das Wurstbeispiel zu sprechen zu kommen: So ein Unternehmen hat natürlich sowohl die Produktionskapazitäten als auch die Fähigkeiten, eine vegetarische Produktvielfalt anzubieten. Wenn die Nachfrage also groß genug ist und man die Kostenseite abgedeckt bekommt, sowie Gewinne erzielt, dann ist eine derartige Veränderung sehr sinnvoll.


Werteset neuer Generation beeinflusst die Entscheidungsfindung in Familienunternehmen

Das persönliche Werteset der neuen Generation in der Inhaberschaft beeinflusst die Entscheidungs- und Inhaberstrategie in Unternehmen.

Beispiel Winzer:

Viele Menschen wünschen sie aktuell nachhaltig produzierte Produkte.

Bei den Winzern gibt es viele familiengeführte Unternehmen, die jetzt in der dritten, vierten oder fünften Generation geführt werden. Diese sagen nun ganz bewusst, dass sie nur kleine Chargen produzieren, dafür aber ökologisch und nachhaltig. Hierfür gibt es wiederum eine große Nachfrage und deshalb ist es ein richtiger Ansatz. Grundsätzlich sollten Unternehmen hierfür ein Verständnis entwickeln.

Basierend auf dem Geschäftsmodell, der Geschäftsidee und dem Wertesystem sollten Unternehmen sich entsprechend der Nachfrage anpassen können und das dann auch in die Hand nehmen und anpacken.

Werteset, Verzerrungen und Emotionen beeinflussen Entscheidungen erheblich.

Entscheidungen und Störgeräusche

In dem aktuellen Buch „Noise“ des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman werden neben den Vorurteilen und Wertesets auch noch Störgeräusche als Entscheidungsfaktoren beschrieben.

Christian und Jürgen sitzen in einem Aufnahmestudio abgeschirmt von Störgeräuschen.

Störgeräusche wären hier z.B. Dinge des Alltags oder das klingelnde Telefon.

Wenn man dabei ist, sich etwas zu überlegen oder einen Plan zu vervollständigen und das Telefon klingelt, könnte man es zwar ignorieren, dennoch wird dies in der Regel nicht gemacht. Solche Störgeräusche lenken ab und auch Dinge, die in solchen Telefongesprächen passieren, können Menschen emotional erfassen. Wenn das Gespräch beendet ist, dann ist damit die Emotion nicht vorbei und das Störgeräusch bleibt vorhanden. Dies wird dann in den Entscheidungsprozess hereingetragen. Störgeräusche sind also Dinge, die uns von Sachen ablenken, auf die wir uns eigentlich fokussieren möchten.

Untersuchungen zeigen, dass Menschen bei den gleichen Sachverhalten völlig unterschiedliche Endergebnisse in den Entscheidungen erzielen.

Dies ist eine Kombination aus den Störgeräuschen und den kognitiven Verzerrungen. Man sieht sich den gleichen Sachverhalt an, hat die gleiche Datenbasis, aber die Gehirne wählen unterschiedliche Informationen aus. Das menschliche Gehirn wird, wenn es eine vorgefasste Meinung gibt, selbst wenn der Mensch versucht, das zu ignorieren, die Informationen auswählen, welche die vorgefasste Meinung unterstützen. Dies wird verschlimmert, je mehr Störgeräusche es von außen gibt. Hier gibt es eine Interdependenz zwischen dem, was extern passiert, also der Störung, und dem, was im Kopf passiert, indem eine Information wahrgenommen und verarbeitet wird.

Können Menschen gute Entscheidungen treffen oder braucht es die Maschine?

Der Mensch kann gute Entscheidungen treffen, ob allerdings die bestmögliche Entscheidung getroffen wird, ist eine andere Frage.

Das Rationalitätsprinzip, was in der ökonomischen Theorie verwendet wird, ist ein Idealzustand, der nie erreicht wird. Der Idealzustand wäre komplette Sicherheit, in der man alle entscheidungsrelevanten Informationen hat und die quantitativen Konsequenzen kennt. In der Regel hat man diese in der Realität nicht. Dann muss geschaut werden, was das für einen bedeutet, wie weit man davon entfernt ist und welche Einflussfaktoren auf das Entscheidungsfindungsverhalten einwirken.

Unterstützung durch externe Kritiker

Um den Entscheidungsprozess in Unternehmen zu unterstützen und einen frischen Blick zu haben, sollte man sich externen Rat holen, sein eigenes Entscheidungsset vorlegen und fragen, wie sich das Gegenüber entscheiden würde. Besonders hilfreich ist der Vorgang, wenn besonders kritische Personen befragt werden, die gerne den Finger in die Wunde legen und optimistische Szenarien anzweifeln. Hier erhält man dann einen Resonanzbogen, kann für sich selbst definieren, wo man sich befindet und was die Konsequenzen bestimmter Entscheidungen sind, die man eventuell treffen würde.

Im wissenschaftlichen Kontext verwendet man die Peer-Review, im Unternehmensbereich gestaltet sich dies schwieriger. Nachdem eine neue Strategie steht, kann man sich an Berater*innen oder anderweitige Strategieexperten wenden.

Jürgen erzählt von einem Beispiel, in welchem er von einem größeren Unternehmen beauftragt wurde. Hier standen zwei große Unternehmensberatungen im Wettbewerb miteinander, die beide Lösungsvorschläge aufgezeigt haben. Die Unternehmensführung hat diese gesichtet und Jürgen als Resonanzbogen mit an Bord geholt. Es lag genug Material zugrunde, um eine Entscheidung zu treffen. In so einem Fall prüft Jürgen diese Entscheidungsvorlagen auf Herz und Nieren mit seinem ökonomischen und strategischen Sachverstand. Auf Basis dessen, was die Beratungen gemacht haben und was sein Blick der Dinge war, hat die Unternehmensführung eine endgültige Entscheidung getroffen. Diese intensiven Diskussionen im kompletten Vorstand, in denen jedes einzelne Detail noch einmal besprochen wird ist sehr wichtig.

Offenheit, Selbstkritik und externe Blickwinkel als Erfolgsfaktoren

Offenheit und Selbstkritik ist ein wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche Entscheidungsfindung. Jeder Mensch macht Denkfehler, die er nicht eigenständig identifizieren kann. Je selbstkritischer Vorstände und Entscheider*innen sind, umso mehr Transparenz findet man im Unternehmen vor. Man erfährt, was die Überzeugung hinter einzelnen Elementen ist oder wie die Interpretation der Sachlage gedacht wird – das hilft und ist sehr entscheidend.

Neutrale Institutionen, wie Beratungen oder einzelne Berater*innen, stellen möglicherweise ganz andere Fragen, auf die man selbst im eigenen Kontext nicht gekommen wäre, da man hier eventuell eingefahren ist. Auch Vorstände, selbst wenn sie ganz viel Erfahrung haben (wie bereits vorab gesagt: selbst Erfahrung kann gefährlich sein) sind vor dieser Problematik nicht befreit.

Am Ende einer jeden Entscheidungsfindungsphase sollte natürlich eine Entscheidung stehen. Hier sollte man dann versuchen, viele Perspektiven integriert und alles in einem 360-Grad-Blick bedacht zu haben. Bezogen auf den Strategieprozess: Das ist der 360-Grad-Blick auf die Strategie – worüber wurde gesprochen, welche Entscheidungen sollen getroffen werden und warum sollen die Entscheidungen so getroffen werden, wie sie auf dem Tisch liegen.

SHOWNOTES:

Christian Underwood

Prof. Jürgen Weigand

Underwood GmbH

WHU - Otto Beisheim School of Management

WHU Strategic decision making program


Kontakt:

Ihr braucht Hilfe bei der Planung Eures Strategieprozesses? Schreibt gerne eine E-Mail an christian@underwood.de.

 Vielen Dank für Euer Interesse und bis zur nächsten Folge…

…Denn HOFFNUNG IST KEINE STRATEGIE.